Kritisches

Unruhig bleiben, dem Monster begegnen
Kritisches · 25. Juli 2023
Als Teenagerin ging ich einmal durch den Garten eines Klosters, in dem ich an Exerzitien teilnahm. Es war schon später Abend und recht dunkel, und ich war ganz allein und in Gedanken versunken, als ich an einer steinernen Marienstatue vorbeikam. Der weiße Stein, aus dem sie gemeißelt war, hob sich in der Abenddunkelheit gut sichtbar hervor, und ich blieb einen Moment vor ihr stehen, um mir ihr Gesicht anzusehen. Es war eine Maria Immaculata Darstellung. Ihre Züge waren innerlich und...
Tilmann Haberer: "Von der Anmut der Welt" - Eine Buchbesprechung
Kritisches · 05. Oktober 2021
Lange habe ich mich auf diese Lektüre gefreut, nun hatte ich endlich Gelegenheit, das Buch zu lesen. Und erlaube mir nun eine etwas ausführlichere Betrachtung. Tilmann Haberer legt am Beginn seines Buches seine Absichten offen: es gehe ihm darum, unzeitgemäße Gottesbilder einer Revision zu unterziehen, Perspektivwechsel zu wagen und sich aus dem warmen Bett (oder auch dem Foltergefängnis) traditioneller Glaubensgewissheiten zu lösen. Eine "post-postmoderne" Deutung des Christentums...

Nicht heute, sondern jeden Tag
Kritisches · 08. März 2021
Zum feministischen Kampftag (some call it Weltfrauentag) gäbe es sicher viel zu sagen, zum Beispiel, dass cis Frauen, trans Frauen, nicht-binäre Menschen, queere und gender-nonconforming Personen unter patriarchaler Gewalt leiden, und das jeden Tag und überall in der Welt. Dass immer noch nicht oft genug das Wort Femizid in den Mund genommen wird. Dass male gaze, rape culture und das ganze Paket toxischer Männlichkeit so tief in den Alltag verflochten sind, dass Auswege nur unter großen...
 Notizen zu Corona V: Sehnsucht, Krise und Befreiung. Was erschaffen wir?
Kritisches · 31. Januar 2021
"Was fehlt dir am meisten?" höre und frage ich in letzter Zeit häufiger, in Bezug auf die Lockdowns, aber auch auf das pandemische Geschehen schlechthin, das uns in vielen Dingen zurückhaltender und vorsichtiger macht. Es ist nun fast ein Jahr Ausnahmezustand. Gewisse Dinge sind neue Gewohnheiten geworden. Hier und da hat sich ein Dauerverzicht breitgemacht. Also, was fehlt dir am meisten? Da höre ich oft: "Berührung". Die Liebsten, die Freund*innen, die Bekannten einfach mal sorglos in...

Von Krippe, Kirchenschuld und der Kakophonie der Anti-Gender-Debatte
Kritisches · 29. Dezember 2020
In diesen Tagen habe ich von Kirche oft gehört, wir sollten uns den Einsamen widmen, sie nicht vergessen, sie anrufen, ihnen schreiben, ihnen mit Maske aus der Ferne zum Balkon raufwinken. Und ja, daran gibts nichts zu mosern, denn Einsamkeit ist jedes Jahr aufs neue eine Tragödie, und in diesem Jahr sicher noch mehr, und ich bin dankbar für jeden Menschen, der die Einsamkeit des anderen mitdenkt, mitfühlt und sich da in der Verantwortung sieht. Aber ich denke jedes Jahr aufs Neue, wieviel...
Kritisches · 12. Dezember 2020
In Deutschland sind bis heute 21.064 Menschen an Covid verstorben. Hinter jedem dieser Todesfälle steht eine persönliche Geschichte, von der wir nicht wissen. Hinter jedem Toten Trauernde. Menschen, die jemanden unwiederbringlich verloren haben, Menschen die vielleicht bis zum letzten Atemzug ihres Liebsten warteten, hofften, bangten oder völlig im Ungewissen blieben. Menschen, die sich nicht verabschieden konnten. Kinder von ihren Eltern, Eltern von ihren Kindern, Männer und Frauen von...

Kritisches · 20. Mai 2020
Ein lieber Freund sagte neulich zu mir: "Weisst Du, was mir mehr Angst macht als das Virus? Die Menschen. Die Menschen, die hamstern, die Menschen, die Schlägereien wegen Masken anfangen, die Menschen, die lautstark demonstrieren und schreien, dass sie in einer Diktatur leben, die Menschen, die sich einen Dreck um Hygiene- und Abstandsregeln scheren." Als Risikopatient hat er großen Respekt vor dem Virus, die grösste Angst macht ihm aber etwas anderes, denn: das Virus ist neutral. Es mag...
Kritisches · 03. April 2020
Während die Wochen im Griff der Corona-Krise verstreichen, wird mir im Blick auf mich selbst und Andere eines immer deutlicher: wie wichtig es ist, das Fürchten zu lernen. Vom ersten bangen Blick ins coronageplagte Ausland über Merkels erste Ansprache und den Lockdown, die Justierung von Ausgangsbeschränkungen, Kontaktsperren bis hin zu den täglichen mathematischen Kapriolen angesichts der Frage, ob die Intensivbetten, Beatmungsgeräte und personelle Ressourcen hierzulande ausreichen...

Kritisches · 21. März 2020
Ja, es sind gespenstische Zeiten. Keine Frage. Wenn vieles, an das wir gewöhnt sind, wegbricht, macht sich eine tiefe Verunsicherung breit, bei vielen auch eine ungute Angst, die mit fortschreitender Zeit ganz schön an den Nerven rütteln kann. Wir sind schliesslich die Ich-will-so-bleiben-wie-ich-bin-Gesellschaft. Die Wir-leben-doch-in-einem-freien-Land-Gesellschaft. Die Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied-Gesellschaft. Im Moment aber bleibt wenig so wie es ist, und die Freiheiten gehen peu a...
Kritisches · 09. März 2020
"Es gibt kein richtiges Leben im falschen", sagte Adorno einst, und ich kenne keinen Satz, der mir seit wenigstens fünf Jahren so unablässig durch den Kopf und die Magengrube wandert, wenn ich an die himmelschreiende Not der Flüchtenden und Europas perfide Abschottungspolitik denke. Das "richtige" im offenkundig Falschen zu tun, das ist inzwischen für mich das unerträglich gewordene Business as usual: wir gehen weiter zur Arbeit, kaufen unser Bio-Obst, treffen Freunde, schlafen nachts...