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Notizen zu Corona I: Zu Sehnsucht, Solidarität und Nichtverfügbarkeit

Ja, es sind gespenstische Zeiten. Keine Frage. Wenn vieles, an das wir gewöhnt sind, wegbricht, macht sich eine tiefe Verunsicherung breit, bei vielen auch eine ungute Angst, die mit fortschreitender Zeit ganz schön an den Nerven rütteln kann. Wir sind schliesslich die Ich-will-so-bleiben-wie-ich-bin-Gesellschaft. Die Wir-leben-doch-in-einem-freien-Land-Gesellschaft. Die Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied-Gesellschaft. Im Moment aber bleibt wenig so wie es ist, und die Freiheiten gehen peu a peu über die Planke, und von Glück reden wir bald wohl dann am ehesten, wenn die Infektion an uns und unseren Liebsten vorübergeht.

Aber heute denke ich vor allem daran, wie verhältnismässig klein unsere Nöte hier sind. Und das soll nicht der moralisierende Reflex sein, mit dem viele Eltern früher ihre Kinder zum Essen nötigen wollten, im Hinblick auf "die Kinder in Afrika, die nichts zu essen haben", kein selbstberuhigendes Tiefstapeln mit vergleichendem Rüberschielen in die vielen weltweiten Hotspots ungebändigten Leidens. Viel eher ist es eine Besinnung, ein Insichblicken, ein Fragen: was ist es eigentlich gerade, was mir fehlt? Und: wie verhältnismässig ist meine Unruhe, meine Traurigkeit? Das ist eine Übung, die ich auf dem spirituellen Weg sowieso gewohnt bin. Fester Teil mystischer Praxis war und ist der klärende Blick auf die Affekte, die Passionen, die "Dämonen", auf jene Gedanken und Emotionen, die weniger mit der Wirklichkeit und unserem Wesen zu tun haben, als wir zunächst annehmen, und in die wir uns allzu gern verstricken.

Wenn ich auf mich persönlich schaue, dann gehöre ich zu jenen, für die sich wenig ändert. Ich lebe seit jeher eher zurückgezogen, und es war mir auch schon vor Corona nicht fremd, über mehrere Tage ausschliesslich in meiner Wohnung zu bleiben. Besonders gesellig war ich nie, und Begegnungen klingen bei mir immer lange nach, weswegen ich sie auf ein für mich gesundes Maß minimiere. Anders ist das natürlich in meinen Seminaren. Dort ist über Tage immer Vollkontakt angesagt, auf den ich mich auch mit ganzem Herzen einlasse. Danach braucht es viel Stille für mich. Da alle Veranstaltungen bis auf weiteres abgesagt sind, stellt sich mir derzeit nicht die Frage, wie ich diese reichen Kontakte und die anschliessende Stille in ein gutes Verhältnis setze. Das hat sich von selbst erledigt.

Als jemand, die grundsätzlich so etwas wie eine kontemplative Lebensweise inmitten der wuseligen Welt pflegt, ist es für mich nichts aussergewöhnliches, es mit mir selbst auszuhalten. Das wird für viele Menschen, die ein reges geselliges Leben mit vielen Kontakten pflegen, sicher schwieriger sein. Und keine Frage, dass eine verordnete Begegnungslosigkeit ein anderes Aroma hat als eine selbstgewählte. Aus diesem Grund halte ich es auch für wichtig, dass jeder einzelne, der nun zuhause bleiben "muss", sich die Eigenverantwortlichkeit und Freiwilligkeit zurück erobert, indem er oder sie nämlich sagt: ja, ich tue es von Herzen, ich nehme diese Verantwortung für mich und meinen Mitmenschen an und beschränke die mir selbstverständliche und liebgewonnene Freiheit, wenn man so will "zum Wohle aller". "Ownership" heisst das ja heute neudeutsch. Mach Dir also klar, dass auch wenn es Dein Regierungschef oder Landeschef verordnet hat, es dennoch auch und gerade ganz deine freie und entschlossene Entscheidung ist, Deine Einsicht und Handlungsfähigkeit, Dich und andere nicht unnötigen Risiken auszusetzen.

Was ich derzeit erlebe, das erleben sehr viele: eine große Traurigkeit darüber, nicht mit Menschen zusammen sein zu können, die wir sonst einfach besucht und an unser Herz gedrückt hätten, mit denen wir sorglos Zeit verbracht hätten und denen wir hätten beistehen können, ganz physisch und mit Berührungskontakt. Da wallt etwas ganz tiefes und schmerzliches in vielen auf: ein Vermissen. Eine Sehnsucht. Und manch einer kann diesen Schmerz gar nicht gut aushalten, besonders da nicht abzusehen ist, wann er enden wird. Ich kann an dieser Stelle nur sagen, dass es nichts nützt, zu diesem großen Gefühl in Widerstand zu gehen. Es ist ja da. Und es ist im übrigen Ausdruck von Liebe, von Fürsorge, von Verbundenheit. Wenn das Vermissen und die Sehnsucht so gross sind, dann können wir darüber sehr traurig sein, aber wir können auch durchatmen und nachspüren: so gross ist die Liebe, die immer Begegnung sucht. So kostbar ist die miteinander verbrachte Zeit. So angewiesen bin ich auf den Anderen. Das ist nicht nur schmerzlich, das ist nicht nur Trauer. Das ist auch etwas heiliges, etwas schönes, etwas zutiefst menschliches.

Es wäre trauriger, hätten wir diese Gefühle nicht, hätten wir kein Gefühl von Verzicht und Mangel überall da, wo wir auf die persönliche Begegnung mit jemandem verzichten müssen.

Etwas anderes, das viele gerade spüren, ist die Last des Nichtverfügbaren. Wir sind es gewohnt, dass so ziemlich alles was wir wollen oder brauchen, jederzeit verfügbar ist. Jederzeit können wir etwas einkaufen was wir haben möchten, jederzeit können wir an Orte fahren, an die es uns zieht, jederzeit können wir etwas bestellen und es wird uns geliefert, jederzeit können wir ein Loch in unserem Gemüt stopfen - mit Waren, mit Substanzen, mit Festivitäten, mit Reisen. Das ist derzeit nicht möglich. Und das erschüttert viele, die es einfach nicht anders kennen. Jeder der schon einmal einen Putsch, eine Revolution, einen Krieg, eine Flucht oder Armut erlebt hat, kennt die Wirklichkeit und das Gefühl von Nichtverfügbarkeit. Anders die meisten von uns, für uns ist es neu. Und darüber können wir traurig sein, oder irritiert, aber wir können auch mutig tief hinein gehen in dieses Gefühl und es herunterschälen bis auf seinen Kern. Was bedeutet das eigentlich, wenn etwas nicht ständig verfügbar ist. Wenn man sich in so etwas üben muss wie Geduld, wie warten, wie Demut, wie Dankbarkeit, wie Bescheidenheit. Wenn man so etwas üben muss wie Leben in Unsicherheit. Das Nichtverfügbare ist nicht bloss ein Drama für den Menschen von heute, sie ist eine heilsame Konfrontation mit Wirklichkeit. Denn nichts worauf es ankommt, ist ständig verfügbar. Verfügbarkeit ist eine Illusion, mit der wir uns allzu lange selbst beruhigt haben.

Oft habe ich hier darüber geschrieben: über die Verfügbarkeit Gottes in unseren heutigen spirituellen Weltbildern. Über unsere mantrisch vorgetragenen Behauptungen wie "alles ist in dir", "es ist ja alles da", "Gott ist immer da, du kannst ihn nicht verlieren" etc. Oft habe ich darüber geschrieben, dass diese Reflexe selbstberuhigend sind, und dass sie mehr Wege versperren als zu eröffnen. Dass sie Gott, oder das Heilige, oder die Erleuchtung, nenne es wie Du magst, herunterzerren in eine psychische Struktur, die es gewohnt ist dass sie jedes ihrer Bedürfnisse umgehend befriedigt. Als heilsam habe ich da solche Inseln der Nichtverfügbarkeit erlebt wie den Karsamstag. Die Karsamstagsstille hat immer versucht uns mit einer anderen Realität zu konfrontieren: der erlebten Abwesenheit Gottes.

Ständige Verfügbarkeit von allem korrespondiert in uns mit einem Beherrschungswillen. Wir wollen die Dinge, den Verlauf unserer Tage, die innere Gemütslage, alles was unser Leben ausmacht, beherrschen. Selbst noch Gott wollen wir beherrschen, wenn wir auf Meditationskissen die ergreifende Erleuchtungserfahrung herstellen wollen. Wir wollen uns in nahezu jedem Bereich unseres Lebens ausruhen im erwartbaren Gelingen. Damit versperren wir uns aber der Erfahrung von Nichtverfügbarkeit, und wir versperren uns einer Erfahrung von Empfänglichkeit, von Gnade, von Beschenktsein und Ergriffensein, wir versperren uns einer tiefen Erfahrung von der Weisheit des Lebens, die etwas mit uns macht, anstatt dass wir etwas mit dem Leben machen. Und dabei wissen wir es im Grunde alle besser: denn nahezu alle von uns haben schon die Erfahrung gemacht, dass die Liebe, die uns hinterrücks überfällt, eine ganz andere Köstlichkeit hat als jene, die wir durch aktive Suche, Paarmatching-Faktoren oder Liebeszauber herstellen wollten.

Diese Zeiten sind auch eine Chance, sich mit dem Nichtverfügbaren auseinanderzusetzen und nachzuspüren, was es mit unserer Charakterstruktur und unseren Gewohnheiten macht. Dazu ist es freilich wichtig, das unangenehme Gefühl nicht gleich zu verdrängen oder sich panisch darin zu verstricken. Es eher freundlich zu beobachten, wäre hier eine gute Haltung, und überdies eine, zu der wir fähig sind.

Warum schrieb ich nun, dass wir es verhältnismässig leicht haben? Weil wir vielleicht nur mit tiefster innerer Verunsicherung, mit Nichtverfügbarkeit, mit tiefem Vermissen und Sehnsucht konfrontiert sind, nicht aber mit lebensbedrohenden Umständen (mal vorausgesetzt, das Gesundheitswesen hält den kommenden Infizierten und ihrem Therapiebedarf stand). Es kostet nicht viel Überlegung zu wissen, dass jeder Mensch, der nun in Armut lebt, im Krieg lebt, auf der Flucht ist oder in einem Land lebt, in dem es kein stabiles Gesundheitssystem gibt, ganz andere Tragödien zu durchleben hat als wir. Ich finde, dass wir das nicht aus den Augen verlieren dürfen. Nicht nur um unser gefühltes Leid wieder in ein angemessenes Licht zu rücken, sondern auch um selbst in diesen Krisenzeiten solidarisch zu bleiben, mit all jenen, die dem großen Risiko das wir alle gerade fürchten, anders als wir schutzlos ausgeliefert sind. Wenn jeder für sich kämpft, sind am Ende alle allein. Wer die erschütternden Briefe aus der Lombardei gelesen hat, wird entsetzt gewesen sein über den Mangel an Hilfe und Solidarität, dort wo sie lebensnotwendig gewesen wäre. Wer gerade nach Griechenland blickt, kann daran verzweifeln wie Menschen allein gelassen werden.

Die tiefe Verbundenheit, die wir mit unseren Liebsten fühlen, die wir gerade nicht sehen können; wir können sich innerlich einmal ausweiten auf jene, die nun ins Hintertreffen geraten, die nun noch weniger gehört werden als ohnehin schon, und für die sich in diesen Wochen ängstlicher Krisenverwaltung kaum noch jemand interessiert.

Viel ist auch schon darüber gesprochen worden, dass die Coronakrise uns dringlich die Frage stellt, ob das was wir für Normalität hielten, sich nicht längst überlebt hat. Der kapitalistische Arbeitsmarkt, gewinnorientierte Krankenhäuser, unterbezahlte Systemerhalter, Klimaschutz, all diese Punkte stehen ganz neu und mit nie gewesener Dringlichkeit auf dem Plan. Und wir alle können dazu beitragen, dass diese Punkte auch nach überstandener Krise nicht in Vergessenheit geraten werden.

Resilienz bedeutet nicht, sich in einer Krise so anzupassen, dass nach der Krise das Leben munter und selbstvergessen so weiter geht wie zuvor. Resilienz bedeutet Anpassungsleistungen und eine lebensbefürwortende Intelligenz, die aus durchlebten Krisen lernt und damit ungeahnte Gestaltungskräfte freisetzt. Wir haben immer schon viel zu gestalten. Künftig mehr denn je. Vergessen wir das nicht, und halten wir gerade in diesen Zeiten unseren Gestaltungswillen wach. Das können wir mit ganz einfachen Übungen tun: zum Beispiel indem wir tagträumen und aufschreiben, was wir uns für eine Welt wünschen, nach der Krise. Was sich für uns überlebt hat und was nicht. Einmal aufschreiben, als "Ich in 2 Jahren", worauf ich zurückblicke und wie die Gegenwart schmeckt.

Wollte man so ein großes Wort wie Co-Kreation bemühen, so wäre dies eine gutes Gelegenheit, sich darin zu üben. Gerade in erlebter Ohnmacht gilt es, auszuloten, welche schöpferischen Kräfte im Inneren noch wach und munter sind und nur darauf warten, dass wir ihre Stimme hören.


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Kommentare: 5
  • #1

    Hildegard Schönweitz (Sonntag, 29 März 2020 16:42)

    Liebe Giannina, deine Texte und Gedichte begleiten mich schon eine ganze Weile und bedeuten mir viel. Danke, dass du deine Gedanken mit uns teilst. Ich hoffe, wir werden uns mal begegnen... Bleib behütet, deine Hildegard Schönweitz

  • #2

    Gerlinde Bauer (Montag, 30 März 2020 10:54)

    Liebe Giannina, danke für deine so klaren und tiefen Worte, die mich nachsinnen lassen, mich bestätigen, mir einen neuen Impuls geben, mich innehalten oder mich einen anderen Blickwinkel einnehmen lassen. Im Gebet des Herzens verbunden. Gerlinde

  • #3

    Heidrun (Montag, 30 März 2020 16:43)

    Liebe Giannina,
    herzlichen Dank für diese Worte, die mich sehr berühren und bestärken - ich stimme dir von ganzem Herzen zu! Heidrun

  • #4

    Christian (Mittwoch, 30 September 2020 11:04)

    Schöne Worte und oft unerhörte Gebete, wie lange noch, werden Menschen so mit Mitmenschen, Völkern, anderen Religionen umgehen, mit schwächeren, mit Frauen, Kindern, alten Menschen, mit der Umwelt, mit Tieren, mit den Meeren und deren Bewohner.
    Ist dass der Weg, den wir bzw. Gott für uns vorgesehen hat?
    Kommt eine Zeit, die alles ändert und zwar so ändert, dass es für alle Lebewesen ein schönes lebenswertes Leben bedeutet und es allen gut geht?! Oder nur schöne Worte und unerhörte Gebete?

  • #5

    Ilsemarie Weber (Dienstag, 05 Januar 2021)

    Liebe Giannina,
    was du hier schreibst und beschreibst bewegt auch mich. Die Fragen, die wir uns z.Z. stellen müssen, bewegen mich schon lange, sie stellen sich in der derzeitigen Situation aber umso dringlicher. Ich danke dir, dass du sie hier mit uns teilst. Ich finde es ermutigend.
    Ilsemarie