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Atme auf

Atme auf

(Segensworte nach einem Suizid)

Wie viele Untröstlichkeiten hast Du wohl gesammelt mit den Jahren, 
wie viele Bitten für unaussprechlich gehalten in unserer Mitte, 
wie viele Male das Sterben vertagt,
mit einem Rest Hoffnung als Kissen in schlaflosem Träumen
von Tagen, die wirtlicher sind.

Ein Sterben wie Deines ist schwer zu ertragen, weil es sagt,
dass mitten im Leben das Morgen Dir schon verloren schien.
Wohin nun mit den Worten, die trösten und stärken,
wohin mit den Gesten, die wärmen und bergen,
wohin mit den Farben, die wir flüstern über wachsendem Grau?
Aus Deinem Sterben stehen so viele Fragen auf.
Auch die eine, die quält: 
Haben wir versäumt, Dich zu tragen?

Deine letzte Reise finde ein glückliches Ende.
Heimgekehrt in die Ewigkeit hinter den Formen
atme Deine Seele auf.
Heimgekehrt in die Arme dessen, dem kein Schmerz fremd ist,
koste Deine Seele die Ruhe, die Du hier vermisst hast.
Heimgekehrt ins Schauen der Dinge 
sättige sich Deine Seele an der Liebe, die niemals endet.

Für alle, die mit ihrem Leben ringen, wie Du gerungen hast,
legen wir diesen Segen wie ein Gebinde aus Blumen
an den Fuß jedes Berges, der nicht zu erklimmen scheint,
in das Getöse jedes Kampfes, der nicht mehr zu gewinnen ist,
in das Dunkel jeder Ausweglosigkeit, 
an der ein Mensch den Mut für das Morgen verliert:
Möge es Dir geschenkt sein, das Leben zu lieben
und zu wissen, 
dass Du für die Welt kostbar und unverzichtbar bist.

(Aus: Giannina Wedde "In Deiner Weite lass mich Atem holen", Vier Türme Verlag 2018 http://kurzelinks.de/zgay.)

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Kommentare: 1
  • #1

    Antje Heim (Dienstag, 30 Juli 2024 04:43)

    Liebe Frau Wedde, heute wurde mir ihr neustes Buch in der anthroposophischen Buchhandlung in der Rothenbaumchaussee in HH empfohlen. Ja, warum suche ich am frühen Morgen ihre Webseite auf und treffe auf dieses segensreiche Gedicht und mit den Worten, denen man sich nicht entziehen mag. Goethe sagt es mir den Worten:" Halb zog sie ihn, halb sank er hin", fällt mir ein. Der Tod als besonderer Moment im Suizid. Dem Unfassbaren "...dem Wunder...die Hand hinzuhalten", wie Hilde Domin es im Gedicht sagt. Ihr Gedicht hat alles was das Leben mit dem Tod nach Suizid braucht, empfinde ich. Danke für den Ein-und Ausblick. Stolperstein, nenne ich es. ;-) Ein lieber Gruß einer Atem-Sprech-und Stimmlehrerin