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Dissonanzen, Gottes Weltkörper und ein Weihnachtsgruß

 

In diesen Tagen empfinde ich so etwas wie Dissonanz. Dissonanz, das ist zunächst Missklang, da passt etwas nicht zu einem anderen und bereitet einem Unbehagen. (Liebhaber*innen der Neuen Musik mögen mir den Traditionalismus dieser Analogie verzeihen).

 

Die Dissonanz befällt mich bei jeder Gelegenheit. Nehmen wir die Coronakrise: Ich sehe Politiker, die zugunsten des Infektionsschutzes massiv in das Privatleben der Bürger*innen eingreifen, die sinnvollerweise darum bitten,  private Kontakte auf nahezu null zu begrenzen,  die aber gleichzeitig kein oder kaum ein Problem darin sehen, wenn Menschen zur täglichen Arbeit, in die Schule, zum wirtschaftsstabilisierenden Weihnachtseinkauf und in den überfüllten öffentlichen Nahverkehr gehen - mit allen dramatischen Folgen, die nun zum viel zu späten Lockdown und zu so vielen Toten geführt haben.

Oder nehmen wir die Klagen über die kleinen und großen Verzichte, die Opfer, die Veränderungen und Einschränkungen durch die Krise: ganz sicher sind diese oft tief empfunden und manches mal durchlitten, und doch werden sie der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn wir etwa auf die unerträgliche Verelendung der Menschen auf Lesbos schauen, die bisher in Europa nichts als Tatenlosigkeit hervorgebracht hat.

Europa feiert Weihnachten, feiert ein Kind in der Krippe, während Kinder auf Lesbos nachts von Ratten gebissen werden und im Mittelmeer ertrinken. Dissonanz. So laut, dass es schmerzt. Viele Menschen empfinden das oder ähnliches derzeit so stark, dass ihnen nicht nach Weihnachten zumute ist. Manche möchten sich hingegen vielleicht gerade angesichts der drängenden und dramatischen Umstände wenigstens für ein paar Tage in die heil(voll)e Welt retten, die uns im Weihnachtsfest zugesagt ist.

Die großen Kirchen arbeiten sich an den Fragen ab, ob es vertretbar sei, Gottesdienste mit strengen Hygienekonzepten zu feiern, oder ob es zumutbar sei, das größte Fest der Christenheit gewissermaßen ausfallen zu lassen, aber die Weihnachtsbotschaft bleibt laut und deutlich, wenn auch verstärkt in Onlineformaten verkündigt, und so sehen wir derzeit Insta-Stories, Zoomandachten, Blogs, Videos, Briefe und Karten, in denen es heisst: Fürchtet Euch nicht, ein Kind ist Euch geboren. Ein Licht strahlt in der Dunkelheit. Das ist und war immer ein Hauptbestandteil der Weihnachtsgeschichte.

Aber in diesen Zeiten ist es ein seltsam generalisiertes Mantra geworden, eine repetitive (Zauber-)Formel erzwungener Furchtlosigkeit, die den Infektionszahlen ebenso trotzig entgegengeschleudert wird wie der Angst vor einem Verlust eines geliebten Menschen, vor möglichen Impfstoffengpässen oder Impfschäden, dem wabernden Schuldgefühl angesichts europäischen Versagens in der Flüchtlingspolitik oder der Erwartung der Klimakatastrophe. Als fiele den Kirchen angesichts einer sich destabilisierenden Welt, zutiefst in Frage gestellter Normalität und sich mehrender Ungewissheiten nichts anderes ein, als kalendertreu eine behauptete Rettung über bestehende Not, eine behauptete Liebe über entlarvte Egozentrik und eine behauptete Gewissheit über nagende Perspektivlosigkeit zu rufen.


Was hat es denn eigentlich auf sich mit der Furcht, von der wir so oft in der Bibel lesen, und mit dem immer wiederkehrenden Satz "Fürchte dich nicht", als sei die Geburt Jesu so etwas wie ein paniklösendes Sedativum? Man könnte sich leicht zu der Annahme hinreissen lassen, Gott habe uns eine generelle Angstfreiheit verordnet, vielleicht als Geschenk an die Glaubensgemeinschaft, als zu feiernde Heilsgewissheit, die uns durch alle Widrigkeiten trägt. Aber biblisch ist das nicht zu begründen. Der Satz "Fürchtet Euch nicht" fällt etliche male sowohl im ersten als auch im zweiten Testament. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass es aber oft eben nicht die Welt mit ihren Irrungen ist, die Angst auslöst, sondern dass gerade die himmlischen Botschafter oder Gott selbst Auslösende der Furcht sind:


Als Sara und Tobit dem Erzengel Rafael begegnen, erschrecken sie und sind in großer Furcht. Als Maria den Engel der Verkündigung sprechen hört, erschrickt sie über seine Worte. Als die Hirten vom Engel besucht werden, der die Geburt Jesu verkündet, sind sie zu Tode erschrocken. Die Jünger, die mit Jesus im Boot sitzen als der Sturm sie erfasst - sie fürchten sich vor Jesus mehr als vor dem Sturm. Die Jünger, die Jesus auf dem Wasser wandeln sehen, fürchten sich vor ihm, weil sie ihn für ein Gespenst halten. Und als Jesus auf dem Berg Tabor verklärt wird und eine Stimme aus dem Himmel spricht, da fürchten sich die Jünger so sehr, dass sie verschreckt zu Boden stürzen.


In vielen dieser Ereignisse, die dem mächtigen "Fürchtet Euch nicht" vorausgehen, zeigen sich Engel oder Gott selbst dem Menschen auf eine Art, die so fremd, so unerwartet, so ehrfurchtgebietend, so überwältigend oder verstörend ist, dass große Angst sie erfasst. Eine radikale Veränderung tritt ein. Etwas, dessen wir habhaftig waren, geht verloren. Etwas Verborgenes wird sichtbar, hörbar, fühlbar, und etwas geschieht mit den Menschen, die dem ausgesetzt sind, und manches mal fallen sie zu Boden, als besiegelten ihre Körper, dass etwas hinfällig geworden ist, dass eine tragende alte Gewissheit und mit ihr jeder Halt zerrieselt sind wie Sand. Gott, das einbrechende Fremde, das Unerwartbare, das Be-Stürzende, es zwingt uns zu Boden, zurück zur Erde, aus der wir gemacht sind, und aus der wir hernach wieder aufstehen müssen wie einst Adam ("der aus der Erde genommene"), wie Neugeborene.


Lässt man sich diese Geschichten einmal durchs Herz gehen, dann wird deutlich, dass ein falsch verstandenes, generalisiertes "Fürchtet Euch nicht" weder der menschlichen Wirklichkeit gerecht wird, in der es allerlei Dinge gibt, die zu fürchten im Sinne des Selbsterhalts immer klüger ist als sie zu ignorieren, noch die göttliche Dimension würdigt, die sich von unseren Hoffnungen und Sehnsüchten nicht domestizieren lässt.

 

Wir sollten uns nicht darauf ausruhen, dass es am Grunde aller Dinge oder am Ende aller Tage keinen Anlass gibt, in Furcht zu leben, wir sollten nicht darauf beharren, dass allen weltlichen Widrigkeiten zum Trotz Gott irgendwie schon wieder alles in Ordnung bringt, denn damit untermauern wir nur einen unseligen Dualismus, der aus Gott das einzig Gute und aus der Welt das immer Fragwürdige und den Ort zahlloser Be-fürchtungen gemacht hat.


Die reine Gutheit Gottes auf der einen und die Korrumpiertheit der Welt auf der anderen Seiten, dazwischen ein Graben der durch Erlösung überwunden werden muss - diese Erzählung hat, und das nicht erst seit gestern, ausgedient. Gerade der Mythos der Inkarnation erzählt uns ja - und zwar nicht nur im Christentum, denn er ist ein universeller Mythos, der in vielen Zeiten, Kulturen und Religionen tradiert ist - davon, wie Gott sich nicht nur in die Welt begibt, sondern sich als Welt zu erkennen gibt. Gott als Welt, als Natur, ebenso wie als Krise, als Wunde, als Humus der Geschichte und als Sog aus der Zukunft - ist uns dieses Erleben vertraut oder fremd? Lässt man sich auf diesen Gedanken ein, lässt man sich auf diese Erfahrung ein, dann stellt eine jede Welterfahrung uns in den weiten Raum Gottes, bis hin zu dem immer wieder aufs neue erschütternden Erleben, dass Gott mich als das ultimativ Fremde befällt, mich aber auch als mein Atemstrom und mein Gedanke konstituiert.


Die göttlichen Kinder der Menschheit, die GottMensch-Inkarnationen, Krishna, Buddha, Dionysos, Horus, Mithras oder Apollon, oder wie wir dieser Tage feiern, Jesus - sie erscheinen in den sie umgebenden Erzählungen meist am Ende einer Zeit in der Welt. Sie markieren eine Schwellenerfahrung, eine Wendezeit, einen Übergang. Meist durch äussere Gegebenheiten bedroht, doch sieghaft, rufen sie eine neue Welt herbei, die in ihnen und entlang ihrer sich verzweigenden Begegnungen, Worte und Wirkstätten Wirklichkeit werden will. Dafür müssen sie selbst verschiedene Sterbeerfahrungen durchschreiten, aus der Bergung des dunklen Mutterschoßes in die Welt reisen, aus Felshöhlen heraustreten, aus Wassern steigen, aus Wüsten zurückkehren, von Bergen herabsteigen oder aus Gräbern und der Unterwelt zurückkehren. Die göttlichen Kinder reihen zahllose symbolträchtige Sterben-und-Werden-Episoden aneinander, weil sie selbst Fleisch gewordener Wandel sind. Wer Gott nahe sein, wer Gott erfahren will, so scheint es, muss sich selbst ins Feuer des Wandels stellen bis er und das Feuer nicht länger zu unterscheiden sind.


Wenn etwas an sein Ende gekommen ist, aber nicht beendet wird, wenn eine Wirklichkeit verschwindet ohne dass eine neue Vision ins Leben gelangen konnte, dann empfinden wir so etwas wie Dissonanz - eine tiefe Auflösungsbedürftigkeit. In diesem Sinne sind diese Wochen und Tage für mich sehr weihnachtlich, denn sie sehnen sich nach einem Wandel, der jedoch nicht an uns vorbei in diese Welt gelangen kann.

 

Was könnte es bedeuten, Inkarnation ernst zu nehmen, gerade zur Weihnacht? Begreifen, dass Gott sich in eine Ohrmuschel spricht, sich in eine Herzwiege legt, sich in einen Schoß bettet, sich in eine Krippe schmiegt, in ein Boot, in eine Erdmulde, in ein Grab, in die Wiege des Lebens. In Deine Hand, in Deine Stimme, in Deinen Blick. In Dein Nichtweiterwissen. In Deinen Fuß über dem Abgrund. In den Grund, den wir erst sehen, wenn wir gesprungen sind.

 

Ich wünsche uns allen eine fruchtbare Zeit des Wandels.

 

Herzlich,

 

Giannina

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Mirijam Kazmaier (Donnerstag, 24 Dezember 2020 17:54)

    Danke für diesen widerständigen Text. Widerstand is die andere Seite der Mystik. "Wer Gott nahe sein, wer Gott erfahren will, so scheint es, muss sich selbst ins Feuer des Wandels stellen bis er und das Feuer nicht länger zu unterscheiden sind." Das ist meine Erfahrung, gerade auch in diesen Tagen.