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Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Für eine radikale Wende in der Flüchtlingspolitik

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen", sagte Adorno einst, und ich kenne keinen Satz, der mir seit wenigstens fünf Jahren so unablässig durch den Kopf und die Magengrube wandert, wenn ich an die himmelschreiende Not der Flüchtenden und Europas perfide Abschottungspolitik denke. Das "richtige" im offenkundig Falschen zu tun, das ist inzwischen für mich das unerträglich gewordene Business as usual: wir gehen weiter zur Arbeit, kaufen unser Bio-Obst, treffen Freunde, schlafen nachts ruhig ein und buchen unsere Urlaube, sitzen im Kino, im Gottesdienst, auf dem Meditationskissen oder auf der Bierbank, geniessen die Sicherheit und Ruhe eines weitgehend katastrophenfrei ablaufenden Lebens, während die Schlauchboote auf dem Mittelmeer sinken, die libysche Küstenwache auf ausgezehrte Menschen feuert oder -wie in diesen Tagen- verzweifelte Menschen zwischen der Türkei und Griechenland zu Manövriermasse unlauterer politischer Interessen gemacht werden. Das Selbstverständliche fühlt sich falsch an. Wie auch nicht, wenn eine nicht unerhebliche Energie in die Verdrängung des Katastrophischen fliesst, nur um weiter handlungsfähig zu bleiben?

Ja, viele Menschen engagieren sich. Gehen demonstrieren, schreiben Petitionen, verfassen Briefe an Politiker, spenden Gelder für Hilfsprojekte, betreuen Geflohene oder versuchen irrationale Ängste und Islamophobie zu bekämpfen. Und doch sind es Zahllose, die schon beim täglichen Blick in die Nachrichten so übermannt sind von Ohnmachtsgefühlen und Überforderung, dass jede Widerständigkeit im Keim zu ersticken droht. Ich kenne viele Menschen (und ich selbst gehöre auch dazu), die es buchstäblich nicht fassen können, in was für einer Welt sie morgens erwachen, einer Welt die sich auf zutiefst beschämende Weise abgefunden hat mit der Not der Vielen, und die ein unglaubliches Maß an Energie und Geldern in den Versuch investiert, sich diese Not vom Leib zu halten. 700 Millionen Euro sind es dieser Tage von Seiten der EU. Soviel kostet es, für eine Weile die Augen verschliessen zu dürfen.

Während an der türkisch-griechischen Grenze Hilfesuchende angegriffen, verprügelt, mit Tränengas und Blendgranaten beschossen werden, während -auch deutsche- Neonazis sich organisieren und in einer Art Bürgerwehr-Tourismus an jene Orte reisen, an denen man derzeit offenbar straffrei Asylsuchende misshandeln und NGO Mitarbeiter und Journalisten angreifen kann, während Schlauchboote attackiert und ins Meer zurückgedrängt werden und Griechenland rechtswidrig die geltenden Asylbestimmungen ausser Kraft setzt, hört man von der EU kaum ein kritisches Wort. Stattdessen tritt EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in die Öffentlichkeit, nicht etwa um ein Machtwort in diese Totaleskalation jedweder Menschlichkeit zu sprechen, sondern um zu versichern, dass es auch ihre oberste Priorität sei, die "Außengrenzen zu schützen", der "Ordnung" wegen. Dieser Idee von Ordnung verdankt es sich dann wohl auch, dass sie die griechischen Behörden und die Bevölkerung lobt, ohne einen Hauch von Kritik an der gewaltvollen Machtdemonstration, die derzeit zahllose Geflohene und Vertriebene entrechtet und traumatisiert.

Auf Lesbos wurde gestern ein Flüchtlingsaufnahmezentrum niedergebrannt, und Oliver Kirchner, Fraktionsvorsitzender der AfD, lässt es sich nicht nehmen, zusammen mit dem rechten Blogger Oliver Flesch vor Ort geistige Brandstiftung zu betreiben, wenn sie Meldungen über diese feindselige Gewalttat als "Fake News" titulieren.

Frauen und Kinder zuerst, so hiess es mal als ungeschriebenes Gesetz in der Birkenhead-Regel. Dementsprechend diskutierte der Bundestag dieser Tage die Forderung der Grünen, 5000 Kinder, Schwangere und Traumatisierte sofort aufzunehmen. Die Forderung wurde abgelehnt. 2016 brauchten wir noch einen Gauland, um über seine Auslassungen zu den Kinderaugen, von denen man sich nicht "erpressen" lassen dürfe, schockiert zu sein. Inzwischen sind CDU und SPD höchstselbst dazu in der Lage, die verzweifelten Blicke schutzloser Menschen stoisch an sich abperlen zu lassen.

Es wird mir zunehmend unbegreiflich, wie angesichts der Fluchtbewegungen der letzten Jahre nicht endlich eine mutige, ausführliche und verantwortungsvolle Debatte über unsere Begriffe von Sicherheit, Identität und Heimat begonnen wird. Wieso wir immer noch Grenzen für schützenswerter halten als menschliche Würde. Wieso wir immer noch über Barmherzigkeit sprechen anstatt über Gerechtigkeit und schuldhafte Verstrickung.

Die Sicherheit und der Wohlstand Europas sind nicht als göttliches Manna vom Himmel gefallen. Es ist inzwischen längst nicht mehr feinsinnigen Arte-Zuschauern und linksintellektuellen Historikern vorbehalten, über das koloniale Erbe Europas im Bilde zu sein. Heroische Geschichtsnarrative, die uns weismachen wollen, wir hätten das Gute, von dem wir heute reichlich zehren, aus eigener Kraft errungen und seien daher auch dazu berechtigt, es vor dem Zugriff "Fremder" zu schützen, dürften uns längst nicht mehr in den Schlaf wiegen. Wann blicken wir diesen Fakten ins Auge und stellen uns den daraus folgenden Konsequenzen?

Was beschwören wir denn, wenn wir von Europas wirtschaftlicher Stärke, von europäischen Werten, oder vom Triumph der Aufklärung sprechen, als hätten wir uns, sauber abgegrenzt vom Rest der Welt, in einer Art innerer Erleuchtungsarbeit, vom Dunkel der Barbarei befreit? Europa, das ist vor allem eine sechshundertjährige Geschichte der Ausbeutung, der Versklavung und der Unterwerfung großer Teile der Welt. Wann beginnt eine umfassende und mutige Aufarbeitung des kolonialen Erbes? Was bliebe wohl von unserer europäischen Identität, unserem Heimatbegriff und unserer Grenzversessenheit übrig, stellte sich Europa dem Blick auf seine Geschichte, mit allem was sie zu verantworten hat? Wann bekommt die Debatte um aktuelle europäische und deutsche Beteiligung an Kriegen, sei sie militärisch, politisch oder wirtschaftlich, den angemessenen Raum?

Die EU hat die aktuelle Situation mit zu verantworten. Durch einen Deal mit der Türkei, dessen Grundlage die Verleugnung und Vertagung eines drängenden Handlungsbedarfs war. Durch Versagen im Umgang mit Syrien und einem nicht enden wollenden Krieg. Durch die Unfähigkeit, mit den EU- Ländern eine Regelung zur Aufnahme von Asylsuchenden zu finden.

Wenn Europa stolz darauf ist, Menschenrechte und Menschenwürde zu schützen, dann hat dies für alle Menschen zu gelten, nicht nur für jene, die qua Nationalität das Glück haben, auf der "richtigen" Seite des Stacheldrahts zu stehen. Rechte und Würde der Vertriebenen und Geflohenen werden aber jeden Tag aufs neue mit Füßen getreten. Auch in der Sprache politischer Akteure lässt sich das ablesen: wir hören da wenig von Würde, von Solidarität, von Soforthilfe. Stattdessen beschwört die Politik permanent Begriffe wie "Ordnung", "Kontrollverlust", "Krise", "Grenzschutz", "nationale Sicherheit" und "Migrationsmanagement" herauf. In dieser entmenschlichten Sprache wird deutlich, um wen die EU bestenfalls besorgt ist: um ihre eigene Befindlichkeit und den status quo.
Und wenn wir schon von Grenzen sprechen wollen: hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass die Freiheit des Einzelnen immer ihre Grenze in der Freiheit des Anderen hat?

Nein, es gibt kein richtiges Leben im falschen. Und es verwundert und beschämt mich, wie unbeweglich und unbelehrbar wir angesichts dieser tragischen aber voraussehbaren Entwicklungen sind, wenn wir doch andererseits neuerdings eine seltsam alarmistische Flexibilität an den Tag legen, um einer Infektion mit dem Coronavirus aus dem Weg zu gehen. Plötzlich scheint die in Stein gemeißelte Normalität, an der zu rütteln offenbar ein Sakrileg ist, gar nicht mehr so alternativlos. Menschen sagen ihre Reisen ab, gehen nicht mehr zu Arbeit, schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule, meiden Veranstaltungen, horten Lebensmittel, sagen ihre Urlaube ab und setzen neue Prioritäten, um eine Infektion zu vermeiden. Der regulierte Alltag, den in Frage zu stellen vielen gar nicht in den Sinn kommt, gerät aus den Fugen. Die Egozentrik darin ist unverkennbar: bin ich in Gefahr, setze ich die Regeln des Alltags aus (ein Recht, das Flüchtenden offenbar nicht zugestanden wird). Was darin noch erkennbar ist, und das wiederum stimmt mich hoffnungsvoll: eine tiefe Sehnsucht, aus dem Hamsterrad der Fremdbestimmtheit auszusteigen, eigenverantwortlich Prioritäten zu setzen, vermeintliche Normalität zu hinterfragen und selbstbestimmt zu entscheiden, wie unbedeutend beispielsweise wirtschaftliches Wachstum angesichts einer Bedrohung von Gesundheit und Leben plötzlich sein kann.

Wie sehr müsste uns das tägliche Sterben, Hungern und Frieren Abertausender vor den Toren Europas zu diesem beherzten Schritt verleiten: die alltägliche Normalität in Frage zu stellen, das scheinbar Unveränderliche zu unterwandern, die Strukturen der Gewalt lauthals anzuklagen und ihnen widerständig zu begegnen. Uns neu zu fragen: wie kann und will ich leben, mit offenen Augen, als Mensch unter Menschen. Nicht nur individuell, sondern auch und gerade gesellschaftlich und politisch auszusprechen und auszuagieren: so geht es nicht weiter.

In manchem Kommentar zur aktuellen Lage liest man die Befürchtung, es würde nur einen weiteren Rechtsruck der Länder befeuern, ließe man "unkontrolliert" Asylsuchende ins Land. So wahr es sein mag, dass ein ohnehin schon rechtspopulistisches Milieu jede Gelegenheit nutzen würde, sich in seinem Nationalismus und seiner Feindseligkeit bestätigt zu fühlen, so sehr bedeutet die Strategie der Tatenlosigkeit angesichts unnötigen Leidens Geflohener nichts anderes, als den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Denn dem rechten Spektrum zu signalisieren, dass man ihm entgegenkommt, dass man die Sorge um nationale Grenzen und nationale Identität teilt, gibt ihm mehr Macht als es unerträglicherweise bereits hat.

Abschottung tötet. Selbst wenn die Lage an der türkisch-griechischen Grenze deeskaliert wird, droht schon die nächste Gefahr: die der unerbittlichen Selbstberuhigung. Denn wir wachen offenbar nur quartalsweise auf, wenn das Elend, von dem wir längst wissen, so sichtbar an unsere Tür klopft wie in diesen Tagen. Aufgeschreckt sind wir dann, aber wovon eigentlich? Von der Sichtbarkeit der Not, die wir bis dato so erfolgreich ausblendeten? Oder von dem Umstand, dass diese Not uns in die Verantwortung nehmen will? Auch wenn wir nicht von so markerschütternden Rechtsverletzungen und kriegsähnlichen Zuständen hören wie heuer, so bleiben die Flüchtlingslager voll, an vielen Orten dieser Welt, und das war auch schon so, bevor Erdogan die Reisebusse nach Griechenland schickte. Seit Jahren vegetieren Kinder, Frauen und Männer elend in provisorischen Unterkünften in der Türkei, in Griechenland, im Libanon, in Jordanien und an vielen anderen Orten vor sich hin, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, ohne genug Nahrung und sauberes Wasser, ohne Zuspruch und Beschäftigung, seit Jahren sind Frauen in solchen Lagern sexueller Gewalt ausgesetzt, seit Jahren werden Menschen dort schikaniert, belästigt und auch gefoltert, seit Jahren verschwinden Kinder, die nie wieder aufgefunden werden, seit Jahren warten Geflohene auf Hilfe, die nie kommt. Und das Mittelmeer bleibt weiterhin ein Ort, an dem Tote nicht nur biligend in Kauf genommen, sondern schuldhaft verantwortet werden.

Die Abschottungspolitik Europas ist komplett gescheitert. Der naheliegende Schritt wäre, dies vollumfänglich einzugestehen, einzugestehen auch, wieviel unnötiges Leid diese Politik verursacht hat und weiterhin verursacht. Man kann nicht einerseits Fluchtgründe ignorieren oder sogar nähren, und andererseits Grenzen schließen und bis aufs Blut verteidigen. Radikale Umkehr ist das Gebot der Stunde.

Manche fürchten, so liest man, Europa sei gerade im Begriff, seine Glaubwürdigkeit, seinen Glanz oder seine Werte zu verlieren. Mal abgesehen davon, dass es zynisch ist, so zu tun, als sei das nicht längst passiert: auch hier spricht wieder nur eine schamvolle Befindlichkeit - die, an Ansehen in der Welt zu verlieren.

Begriffen wir doch, dass jeder einzelne der Geflohenen weit mehr zu verlieren und bereits verloren hat.


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