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Unruhig bleiben, dem Monster begegnen

Als Teenagerin ging ich einmal durch den Garten eines Klosters, in dem ich an Exerzitien teilnahm. Es war schon später Abend und recht dunkel, und ich war ganz allein und in Gedanken versunken, als ich an einer steinernen Marienstatue vorbeikam. Der weiße Stein, aus dem sie gemeißelt war, hob sich in der Abenddunkelheit gut sichtbar hervor, und ich blieb einen Moment vor ihr stehen, um mir ihr Gesicht anzusehen. Es war eine Maria Immaculata Darstellung. Ihre Züge waren innerlich und lieblich.

 

Vielleicht war es der hereinbrechenden Nacht geschuldet, die gierig das letzte Licht aufsog, aber mit einem mal verwandelte sich das Gesicht der Madonna in einen grinsenden Totenkopf, der mich aus dunklen leeren Augenhöhlen ansah. Ich erschrak. Ich schloss einige male die Augen und öffnete sie wieder, um zu sehen ob die Sinnestäuschung sich auflösen würde. Aber sie blieb. Maria stand da wie Gevatter Tod und machte keine Anstalten, sich wieder in die makellose Trösterin zurückzuverwandeln, unter deren Mantel jede*r Bedürftige Zuflucht findet.

 

Mir standen die Haare zu Berge. Aber nicht etwa, weil ich mich von boshaften Kräften heimgesucht gefühlt hätte, sondern weil es mich auf eine mir verboten scheinende Weise beglückte, dass diese Madonna mich zutiefst beunruhigte.

 

 

Ich ging zurück in meine Klosterzelle und hörte noch eine Weile meinen eigenen Herzschlag und mein Blut in meinen Ohren rauschen, und ich nahm mir vor, am Morgen mit einem Priester über dieses Erlebnis zu sprechen.

 

 

Es ist sicher keine Überraschung, wenn ich erwähne, dass besagter Priester mir den ganzen Spaß der beglückenden Beunruhigung verdarb, indem er mich darauf hinwies, wie unnachgiebig der Teufel nach den Seelen grabsche, insbesondere den frommen, und dass man immer auf der Hut sein müsse vor solcherlei "Täuschungen und Monstrositäten". Es ging mir noch lange nach, dieses Wort "Monstrosität".

 

 

Nun, das ist 35 Jahre her. Es brauchte noch viele Jahre, bis ich eine Sprache dafür fand, was ich damals in zarten Anfängen ahnte, und was ich heute, um viele Erfahrungen reicher, weitaus tiefer empfinde: dass ein Gott, der uns nicht beunruhigt, kein Gott ist sondern eine Selbsthypnose. Dass das Heilige, wenn es uns nicht immer auch als das Andere, das Fremde und Unerwartete anfasst, nur ein domestiziertes Haustier in unserer spirituellen Komfortzone bleibt. Dass die Kraft, die wir als lebensspendend anrufen, dieselbe Kraft ist, die den Tod komponiert und alles Lebende kompostiert.

 

 

Unsere religiösen Erzählungen sind zu klein für das was ist, aber mehr noch für das was werden will. Nicht weil es ihnen an symbolischer Tiefe mangelte oder an vielschichtiger profunder Lebensweisheit, sondern weil wir sie oft auf die denkbar einfältigste Weise verengen und verdrehen, bis sie keinen anderen Zweck erfüllen, als unser Lebensmodell zu legitimieren. Alles, was wir an menschlichem Unheil sehen, ließ sich in der Vergangenheit durch religiöse Narrative legitimieren: die Ausbeutung der Erde, die Unterdrückung der Frau, Rassismus und Kolonialismus, Wachstumsideologie, kriegerische Auseinandersetzungen, Gewalt, Missbrauch, Verwüstungen jedweder Art.

 

Aber wir befinden uns in einer bemerkenswerten Zäsur, in einer Zeit, in der nicht nur die religiösen Erzählungen, sondern das Menschsein schlechthin zur Disposition steht. Am Wundrand des Anthropozäns, jener Zeit in der wir auf so viele Weisen in natürliche Prozesse eingegriffen und sie auf lange Sicht geprägt und deformiert haben, stellt sich weniger die Frage, wie wir "wirklich Mensch werden" (was immer eine zentrale Frage des Christentums war) als die Frage, wie wir dem Irrtum entgehen, als Menschen die interessanteste Erzählung auf diesem Planeten zu sein.

 

 

Was in unserer Zeit neu in den Blick gerät, ist die Beziehungshaftigkeit alles Lebendigen, und wir werden von Stimmen aus der Waldökologie bis Mikrobiologie auf neue, dringliche Weise damit konfrontiert, relationale Netzwerke zu sein, durch und durch angewiesen auf Symbiosen - ein Gedanke, für den viele Lebensformen in der Natur so sichtbar Pate stehen: Bäume, Pilze, Korallen, Bakterien.

 

 

Das gilt für uns auf der biologischen Ebene gleichermaßen wie auf der intellektuellen, emotionalen und spirituellen. Wir sind angewiesen darauf, uns vom faszinierend bis beängstigend Anderen bewohnen und verändern zu lassen, angewiesen darauf, zu verlernen und zu vergessen, was wir noch gestern über uns erzählten - auch und gerade legitimiert durch religiöse Narrative, die uns immer mehr aus dem schöpferischen Netzwerk Erde und aus unseren Körpern herauszogen, als dass sie uns eine Ankunft ermöglicht hätten. Die Grenze feindseliger Individualität und Selbstbehauptung muss fallen - und mit ihr die alten Fiktionen eines überlegenen religiösen Subjekts, das als empfangendes Ende einer göttlichen Selbstverausgabung der Welt erst einen Sinn verleiht.

 

 

In ihrem mitreißenden visionären Essayband "Unruhig bleiben - Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän" imaginiert Donna J. Haraway auf wild wuchernde Weise, was es bedeuten könnte, frei von Anthropozentrik, von Zynismus oder Weltrettungsfantasien als Mensch auf dieser -und als diese- verwundete Erde wirklich gegenwärtig zu sein. Das kann nur "in Fortsetzungsgeschichten und artenübergreifenden Praktiken des Miteinander-Werdens" gelingen, und dafür müssen "menschlicher Exeptionalismus und zweckorientierter Individualismus [...] undenkbar werden. Ernsthaft undenkbar. Nicht mehr für das Denken zur Verfügung stehend." Der Mensch: ein Holobiont, dem erst jetzt dämmert, dass es die Trennung, unter der er litt und die er zelebrierte, niemals gab. Eine esoterischer Einheitsfantasie lässt sich daraus aber ebensowenig ableiten wie ein pessimistischer Abgesang auf alles Menschliche.

 

 

Was Haraway ins Auge fasst, ist eine erlernbare, radikale und verwandelnde Form von "Verwandtschaft" jenseits der biologischen. "To make kin", sich verwandt machen, ist ihre Einladung an uns, aus der selbstgewählten Tragödie destruktiver Vereinzelung auszusteigen. Die anbrechende Zeit, die sie das "Chthuluzän" tauft, weil die Arten sich narrativ wie materiell verweltlichen und wir wie der Oktopus unsere Tentakel tastend, fragend und umarmend in die Fremde ausbreiten müssen, ist für sie "weder heilig noch säkular" sondern "durch und durch terrestrisch, durcheinander und sterblich".

 

 

Als ich dieses wunderbar beunruhigende Buch in diesen Tagen wieder in die Hand nahm, erinnerte ich mich an die obige Begegnung mit der Maria Immaculata, die für mich für einige Sekunden das Gesicht des Todes trug und wie eine Monstrosität inmitten dekorativ geschnittener Hecken stand. (Und das lange, bevor ich vom mittel- und lateinamerikanischen religiösen Kult um "Santa Muerte" erfuhr).

 

Was sie in diesen Moment wurde, war eine heilsame Unterbrechung der Erzählung, mit der ich ihr im Garten begegnete. Innerhalb eines Lidschlags beendete sie meine innere Erwartung von Zuflucht, Beruhigung und Ankunft und konfrontierte mich mit einer Irritation, die ich zu kultivieren lernte, weil ich ahnte, dass in ihr ein schöpferischer Impuls liegt.

 

 

Blicken wir auf Mythen, Märchen, Geschichten oder Horrorfilme, so begegnet uns "das Monster" immer als eine existenzielle Infragestellung und zwingende Kraft der Veränderung. Unerwartet und unvermeidbar bricht es in eine Wirklichkeit ein, unter deren dünner Haut etwas Neues ins Leben finden will. Oft klebt an ihm eine alte unbeglichene Schuld oder ein totgeschwiegenes Geheimnis. Wie die Mnemosyne der griechischen Mythologie erinnert es an das Vergangene, das der Heilung bedarf, ebenso wie an das Zukünftige, das sein Recht auf Geburt einfordert.

 

 

Damit okkupiert es  Orte der Selbstberuhigung, deren identifikationsstiftende Funktion sich vor allem der Kontinuität verdankt. Diese Räume - seien sie Familie, Jugend, Heimat, romantische Liebe, Werte, Konfession - sind freilich nur in unserer Fantasie Räume der Kontinuität. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Lebensabschnitt endet, eine Geburtsfamilie auseinandergeht, dass man ein Haus verlässt oder sich von einer Idee verabschiedet, die angesichts wachsender Reife unterkomplex geworden ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Zweisamkeit scheitert, dass unser Körper erkrankt und das Unsterblichkeitsphantasma durchbricht, und dass eine religiöse Erzählung unerbittlich die Erfahrungsdimension einfordert weil sie sich sonst selbst ad absurdum führt.

 

 

Und doch bewegen wir uns in diesen Räumen wie das ahnungslose pubertierende Kind im Gruselfilm, das den Terror nicht fassen kann, von einem Monster unter dem Bett über eine Schwelle hinter dem Wandschrank gerissen zu werden. Unter jedem Bett, unter jedem kontinuierlichen schläfrigen Dümpeln lauert das Monster - entsendet vom Werdenden, das von uns eine Wachsamkeit bis in die Haarspitzen braucht, und einen  kompromisslosen Mut, der "Otherness" zu begegnen. Im Idealfall macht das Monströse dann einer neuen Wirklichkeit Platz, in der es sich leben lässt in dem Maße, in dem wir gegenwärtig und im Kontakt bleiben, beweglich und .... wie Donna Haraway vorschlägt: unruhig (oder wie es im Original heisst: "staying with the trouble").

 

 

Im Alltag bewegen wir uns oft an den Rändern des Werdenden, und ich glaube, dass wir lernen müssen, viel subtiler wahrzunehmen, wie oft wir eingeladen sind, dem Ruf des Neuen zu folgen, und wie oft wir diese Einladung ausschlagen. Manchmal beginnt es mit einem unbestimmbaren Gefühl, einer Vagheit, einem kaum benennbaren haarbreiten inneren Niemandsland aus Nichtmehr und Nochnicht. Manchmal beginnt es mit einer Irritation, einer grundlosen Traurigkeit oder einer körperlich manifesten Beunruhigung. Manchmal fühlen wir uns selbst schon nach dem Aufwachen wie eine Frage, die sich an keiner vertrauten Antwort zu beruhigen weiß. Wenn wir uns dann aufmerksam beobachten, stellen wir fest, dass wir nahezu umgehend - unbewusst, halbbewusst und bewusst - alles tun, um "die Ordnung" wiederherzustellen. Wir stellen der Vagheit eine Gewissheit entgegen. Dem Nichtmehr und Nochnicht ein Gefühl der Ankunft. Wir versichern uns in der Irritation dessen, was uns vermeintlich absolut gewiss ist, wir rupfen die Traurigkeit aus unserem inneren Garten, wir halten die körperliche Beunruhigung nicht aus und fliehen in die nächstbeste Ablenkung.

 

 

Manche inneren Anteile sind in ihrer Fixiertheit auf Verletzungsabwehr geradezu darauf spezialisiert, uns an der Erfahrung des Neuen und Anderen zu hindern. Die kritische Stimme etwa ("Das ist nicht gut genug. Du bist nicht gut genug"), die verletzte Stimme ("Das fühlt sich ausweglos an"), oder die rebellische Stimme ("Das habe ich nicht nötig"), um nur einige zu nennen. Und natürlich gibt es viele äußere Zwänge, denen wir uns unablässig beugen, und innerhalb derer wir die Abweichung nicht wagen. Gerade religiöse Gewissheiten, die einerseits mit starken Gefühlen von individueller Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit, und andererseits mit tragenden Gemeinschaftsgefühlen verbunden sind,  mindern oft unsere Bereitschaft, das Unbekannte zu schätzen, geschweige denn einzuladen. Anstatt in die Tiefe eines Unbehagens, einer Untröstlichkeit, einer Sprachlosigkeit oder eines Verlorenheitsgefühls hinabzusteigen und dort etwas womöglich gänzlich Neuem zu begegnen, "channeln" wir unseren liebsten Egregore, unser Geborgenheitsgefühl "in Gott". Und schlagen damit der Möglichkeit, die uns befiel, die Tür vor der Nase zu.

 

 

Diese reflexhafte Immunisierung gegen das ins uns hineinschleichende oder -stürzende Unbekannte müssen wir verlernen. Und ich sage "müssen", weil diese Notwendigkeit so viel mehr ist als eine individuelle Angelegenheit. Sie ist eine Angelegenheit des gesamten Holobioms Erde, von dem wir ungetrennt sind und das unablässig mit uns und als wir spricht, wie sie eine Angelegenheit des Bewusstseins ist, das wir nicht "besitzen", sondern das uns hervorgebracht hat und fortwährend hervorbringt.

 

 

Das unwillkommene Gefühl bereisen, den unliebsamen Gedanken denken, die Frage aushalten, die Ungewissheit einladen, das Andere befragen, die bekannte Form verlassen, die inneren Beruhigungsstrategien durchkreuzen, das sind Praktiken im Alltag, die so subtil wie subversiv sind. Und unvermeidbar sind sie auch. Denn das Monster ist längst da.

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Monika (Dienstag, 25 Juli 2023 19:10)

    Danke für diese Ausführungen - der Gedanke, Gott, Maria oder andere „Ewige“ nicht zu besitzen, sondern das Überraschende in ihnen und auch uns zu entdecken und zuzulassen, gefällt mir.
    Das jeweils unerwartete, andere und doch auch wahre Gesicht von allem lädt ein, auch diese Seiten lieben zu lernen und anzunehmen als Vervollständigung! �

  • #2

    Irene (Freitag, 28 Juli 2023 13:27)

    Danke für diese „Brandrede“, die In ihrer Eindringlichkeit und Schonungslosigkeit eine Tür aufstößt in Räume die zu betreten es Mut und Herzenskraft braucht, aber auch befreiend sich anfühlt, dort zu sein wo wir der Anstrengung nicht hin zu fühlen und zu sehen enthoben sind, aber auch den beglückenden Wandel erleben.
    Danke

  • #3

    konrad (Dienstag, 01 August 2023 00:10)

    du sollst dir kein bildnis machen (ex 20,4)

    einsam
    trotz deiner gegenwart.
    die illusion der totalen einheit
    zerplatzt wie eine seifenblase -
    das bild bröckelt ab.

    enttäuscht
    ob meiner ohnmacht zu lieben.
    täuschungen verlieren sich,
    wahres kommt ans licht -
    der rahmen springt.

    anders als ich dich meinte,
    bist du.
    mein bild ist blaß und fad,
    mein rahmen eng wie eine zwangsjacke -
    du aber lebst!