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Advent – „Mit dem Geringen sogar beginnen wir Ihn“ (Rilke)

Es ist doch erstaunlich, dass wir, unabhängig davon wie tief wir in der christlichen Erzählung wurzeln, jedes Jahr aufs Neue den Advent feiern, der eine Zeit der Erwartung ist, und dass wir gleichzeitig so wenig Bezug zu einem Gottesbild haben, das Gott als einen Kommenden denkt. 

 

Als Kind irritierte mich der offenkundige Widerspruch zwischen der atemlosen Erwartung, der ungeduldigen Vorfreude, die man mir kirchlicherseits zu vermitteln trachtete, und der gefühlten Sattheit die aus einer Gewissheit aufstieg, dass Gott doch ohnehin schon da ist: als der, der mich hört, der mich sieht, der gar nicht anders kann als mich zu lieben und dessen Macht und Allgegenwart so glatt und bruchlos ist, dass ihm ohnehin alles und jede*r gehört, wie viele Irrwege sich auch zwischen dem Menschen und Gott verzweigen mögen. Wie ein Buch, dessen letzte Seite man im Laden vorab gelesen hat, lag die Weihnachtsgeschichte geheimnislos zwischen Tannengrün und kitschigen Krippenfiguren. 

Die Verheißung und Erwartung als große Motive der Adventszeit ließen mich dementsprechend kalt. Warum auf etwas warten, was längst da ist? Warum um etwas bangen, das längst gewiss ist? Ich kam mir vor wie das Kind, das mit gespielter Freude den Besuch des Weihnachtsmanns im Wohnzimmer goutiert, nur um die Gefühle des Onkels nicht zu verletzten, den es unter der Verkleidung längst erkannt hat. Die Schar der Erlösten, sie gibt sich erwartungsvoll und überrascht, wenn sich ihre Erwartung erfüllt. Es befremdete mich.

 

Ohne dass ich dafür Worte oder Erklärungen gehabt hätte, nahm ich die Advents- und Weihnachtszeit als eine wahr, der mindestens die Hälfte der Wahrheit abhandengekommen sein musste. 

 

Eine Hälfte Wahrheit, die dem Advent fehlt, führte Peter Scherle jüngst in diesem Artikel aus, ist die Apokalyptik. Es ist (nicht nur) gute biblische Tradition, das verheißene Rettende in einem Kontext aus real erlebtem Grauen, Krankheit, Armut, Krieg und Tod herbeizurufen und es in einer endzeitlichen Untergangsdramatik zu imaginieren: in Bildern von Weltende, jüngstem Gericht und schmerzhafter Umbildung alles Geschaffenen. Dass uns solcherlei Bilder heute fremd und unangenehm sind, mag aus vielen Gründen verständlich sein, gerade weil sie institutionalisierter Religion erlaubten, Menschen chronisch ängstlich und manipulierbar zu machen. Der Verlust dieser starken symbolreichen Bilder ist dennoch bedauernswert, weil an ihre Stelle keine Neuinterpretation apokalyptischer Spannung und ihres geburtlichen Charakters trat, sondern eine Leerstelle blieb. Der Advent, einstmals mit der Idee der „Wiederkunft Christi“ verknüpft – was auch immer dies im Detail bedeuten mag - verkam zu einer recht betulichen, spannungsarmen Selbstbezüglichkeit.

 

Heute wimmelt es von Dystopien, nicht nur in den gängigen Streamingdiensten, die wir zu unserer Unterhaltung ausgiebig konsultieren. Endzeitliche Fantasien zu entwickeln, fällt uns nicht schwer angesichts realer Schrecken wie Krieg, Terrorismus, Klimakatastrophe – doch was die Dystopien von der ursprünglichen Apokalyptik unterscheidet, ist dies: unsere Katastrophenszenarien bleiben verheißungslos. Unsere großen religiösen Verheißungen hingegen haben wir so gründlich von der inneren Not befreit, die sie hervorbrachte, so vollständig bezähmt und geglättet, dass sie uns gar nichts mehr in Aussicht stellen als ein Verbleiben auf der vermeintlich richtigen Seite. 

 

Aus meiner Perspektive fehlt dem Advent mehr als seine ursprüngliche Verquickung mit Imaginationen rettender Gerechtigkeit – und selbst die ist für uns, die wir weitgehend privilegiert, wohlgenährt und in Sicherheit leben, schwer nachvollziehbar. (Noch weniger gern vollziehen wir nach, dass wir im Magnificat Mariens womöglich diejenigen wären, denen in Aussicht gestellt wird, entthront und zerstreut zu werden und leer auszugehen.)

Dem Advent fehlt unsere Bereitschaft, unser Wagemut, Gott oder das Heilige als „das Kommende“ zu betrachten. Im tiefsten Wortsinn und ohne die Geste der Selbstberuhigung, die, lange bevor ein Mangel oder ein Sehnen sticht, immer zu sagen weiß dass ja alles längst da ist. Und was könnte das Kommende sein, außer einem diffus Zukünftigen? 

 

Ich stelle mir das Kommende vor als das große schmerzliche Nochnicht, dem ein ebenso schmerzliches Nichtlänger vorausgeht. Es ist das Ungewisse, das Unbestimmbare, das Unwägbare, das uns befällt „wie der Dieb in der Nacht“ und das uns zwingt, Andere zu werden und zu begreifen, dass wir es, im Sinne eines emergenten Selbst, auch stets waren. Es geht aus der Wunde der Verlusterfahrung hervor, ohne diese jemals zu schließen. Es steht an jeder Schwelle, ohne sich je ganz preiszugeben. Das Kommende ist das Unnennbare und Unverfügbare, das sich ebenso vehement unseren Worten und Händen entzieht wie unserem Wunsch, es verstehend ins Licht zu setzen. Das Kommende liegt im Dunkel, dort, wo wir immer und immer wieder feindselig den Triumph des Lichts verwirklichen wollen: mit dem Licht des Tages, dem Licht Christi, dem Licht der Wahrheit, des Trostes, der Aufklärung und Vernunft, ohne zu begreifen, dass das Dunkel die tehomische Tiefe ist, die unseren Wunsch nach fortwährender Erleuchtung genauso wenig braucht wie wir selbst, und aus der alles Lebendige aufsteigt. 

 

Das Kommende ist nicht mehr Glanz und Glorie als es Chaos und Krise ist, weil Ankunft auch bedeutet, in die Dinge hineinzusterben und aus ihnen hervorzugehen wie in einem fortwährenden Atemstrom. Lockruf, der das Co-Kreative aus allem Seienden hervorbringt und der auch mich beim Namen nennt, jeden Tag aufs neue.

 

Das Kommende ist das Werdende. Oder „der Werdende“. Und ich wünschte, wir schmeckten das in unseren vielen Formen der Andacht, anstatt es bloß einmal flüchtig zu denken und uns dann wieder mit der Fantasie eines vollkommenen, allwissenden und allmächtigen Gottes zu betäuben, auch wenn wir längst fühlen, dass wir ihn verloren haben. Das Werdende ist ein Unfertiges wie es ein tausendfach Zerbrochenes ist, ein Schöpferisches, reine Anfänglichkeit, die sich in der Relationalität aller Kreaturen ins Leben ruft. Manchmal glaube ich, erst wenn wir das ernst genug nähmen, ahnten wir wohl, was Inkarnation bedeuten muss.

 

Advent so zu betrachten, riefe eine tiefe Unsicherheit in uns wach, die Voraussetzung jeder Berührbarkeit ist. Ganz sicher bedeutet ein solcher Advent auch ein Alleinsein, das wir nur selten wagen und ein Miteinandersein, vor dem wir erschrecken. Er bedeutet eine Erwartung, die viel eher Frage ist als Antwort, und ein Sehnen, das an der Klage gereift ist. Ein solcher Advent lüde uns ein, die Ungeheuerlichkeit unserer Freiheit und Verantwortlichkeit auszuloten und auch Gott, wollte man ihn heute noch so nennen, aus der Enge unserer Gewissheit zu entlassen.

 

In einem Brief an Franz Xaver Kappus schrieb Rilke diese bewegenden Worte, die mir gerade neulich wieder, passend zum Advent, in die Hände fielen, und gerne möchte ich sie mit Ihnen teilen:

 

„Warum denken Sie nicht, daß Er der Kommende ist, der von Ewigkeit her bevorsteht, der Zukünftige, die endliche Frucht eines Baumes, dessen Blätter wir sind? Was hält Sie ab, seine Geburt hinauszuwerfen in die werdenden Zeiten und Ihr Leben zu leben wie einen schmerzhaften und schönen Tag in der Geschichte einer großen Schwangerschaft? Sehen Sie denn nicht, wie alles, was geschieht, immer wieder Anfang ist, und könnte es nicht Sein Anfang sein, da doch Beginn an sich immer so schön ist? Wenn er der Vollkommenste ist, muß nicht Geringeres vor ihm sein, damit er sich auswählen kann aus Fülle und Überfluß? Muß er nicht der Letzte sein, um alles in sich zu umfassen, und welchen Sinn hätten wir, wenn der, nach dem wir verlangen, schon gewesen wäre?

 

Wie die Bienen den Honig zusammentragen, so holen wir das Süßeste aus allem und bauen Ihn. Mit dem Geringen sogar, mit dem Unscheinbaren (wenn es nur aus Liebe geschieht) fangen wir an, mit der Arbeit und mit dem Ruhen hernach, mit einem Schweigen oder mit einer kleinen einsamen Freude, mit allem, was wir allein, ohne Teilnehmer und Anhänger tun, beginnen wir Ihn, den wir nicht erleben werden, so wenig unsere Vorfahren uns erleben konnten. Und doch sind sie, diese Langvergangenen, in uns, als Anlage, als Last auf unserem Schicksal, als Blut, das rauscht, und als Gebärde, die aufsteigt aus den Tiefen der Zeit.

 

Feiern Sie in diesem frommen Gefühl, daß Er vielleicht gerade diese Lebensangst von Ihnen braucht, um zu beginnen; gerade diese Tage Ihres Überganges sind vielleicht die Zeit, da alles in Ihnen an Ihm arbeitet, wie Sie schon einmal, als Kind, atemlos an Ihm gearbeitet haben. Seien Sie geduldig und ohne Unwillen und denken Sie, daß das wenigste, was wir tun können, ist, Ihm das Werden nicht schwerer zu machen, als die Erde es dem Frühling macht, wenn er kommen will.

Und seien Sie froh und getrost.“

 

Ich wünsche uns eine lebendige Adventszeit.

 

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Kommentare: 3
  • #1

    verflochten@gmx.de (Sonntag, 10 Dezember 2023 21:49)

    Vielen Dank für diese inspirierenden Zeilen.
    "Ihm das WERDEN nicht schwerer machen, als die Erde es dem Frühling macht, wenn er kommen will."
    Eine für mich wunderbare und tief gehende Wirklichkeit.

    Ja, eine lebendige Adventszeit Ihnen auch
    Michaela Lang

  • #2

    Christl Fischer (Montag, 11 Dezember 2023 10:52)

    Liebe Giannina, deine Gedanken berühren mich sehr, sie treffen mich in einem anders als bisher erlebten Advent, begleitet von deinem/ meinem Klanggebet! Danke, und sei gesegnet!

  • #3

    Zahira Carmen (Samstag, 16 Dezember 2023 07:53)

    Herzlichen Dank für diese berührende und wunderschöne Webseitenpräsenz.
    Herzliche Advents- u Weihnnachtsgrüße mit einem Gedicht aus Brasilien

    Jedes Mal, wenn Menschen einander verzeihen, ist Weihnachten.

    Jedes Mal, wenn ihr Verständnis zeigt für eure Kinder, ist Weihnachten.

    Jedes Mal, wenn ihr einem Menschen helft, ist Weihnachten.

    Jedes Mal, wenn jemand beschließt, ehrlich zu leben, ist Weihnachten

    Jedes Mal, wenn ein Kind geboren wird, ist Weihnachten.

    Jedes Mal, wenn du versuchst, deinem Leben einen neuen Sinn zu geben, ist Weihnachten.

    Jedes Mal, wenn ihr einander anseht, mit den Augen des Herzens, mit einem Lächeln auf den Lippen, ist Weihnachten.

    Denn es ist geboren die Liebe. Denn es ist geboren der Friede. Denn es ist geboren die Gerechtigkeit. Denn es ist geboren die Hoffnung. Denn es ist geboren die Freude.